Essstörung als Ausdruck eines tiefen inneren Dilemmas
Essstörung als Ausdruck eines tiefen inneren Dilemmas
Zwischen Bindung und Autonomie – und der Angst, sich selbst zu verlieren
Essenz:
Der Weg aus der Essstörung führt nicht in ein Entweder-oder, sondern in ein Sowohl-als-auch:
Ich darf mich binden – und ich darf ich selbst bleiben.
Wenn Bindung Angst macht – und Alleinsein auch
Hinter einer Essstörung steckt oft viel mehr als der Wunsch, „schlank zu sein“.
Sie ist Ausdruck eines inneren Konflikts:
Nähe ist gefährlich.
Autonomie auch.
Viele Betroffene erleben:
„Wenn ich mich binde, verliere ich mich selbst.“
„Wenn ich für mich einstehe, verliere ich die Verbindung zu anderen.“
Dieser unbewusste Konflikt – zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Wunsch nach Selbstbestimmung – ist ein tiefliegendes Kerndilemma.
Was Bindung eigentlich bedeutet
Bindung ist mehr als körperliche Nähe.
Es geht um emotionale Sicherheit, um das Gefühl, gehalten und gemeint zu sein.
Doch wenn jemand früh erfahren hat:
„Ich werde nur geliebt, wenn ich funktioniere.“
„Meine Bedürfnisse überfordern die anderen.“
„Ich bin zu viel – oder nicht genug.“
… dann bleibt das Bedürfnis nach Nähe zwar bestehen – aber wird mit Angst, Scham und Misstrauen belegt.
Die Folge: Man sehnt sich nach Nähe, aber zieht sich zurück. Man kontrolliert – in der Hoffnung, doch irgendwann liebenswert zu sein.
In der Essstörung wird dieser innere Rückzug sichtbar:
Der Körper wird zum Schutzschild, zum Ausdruck von Kontrolle – aber auch von Sehnsucht nach Gesehenwerden.
Was Autonomie bedeutet – und warum sie oft sabotiert wird
Autonomie heißt: Ich darf ich selbst sein. Ich darf Entscheidungen treffen, Grenzen setzen, mich ausdrücken.
Aber was, wenn ein Kind gelernt hat:
„Wenn ich mich abgrenze, enttäusche ich.“
„Wut oder eigene Wünsche gefährden die Verbindung.“
„Ich bin verantwortlich für das Wohlbefinden der anderen.“
Dann wird Selbstbestimmung mit Schuld besetzt – und die Angst, nicht mehr geliebt zu werden, wächst.
In der Essstörung wird diese Autonomie scheinbar zurückerobert:
"Niemand bestimmt über meinen Körper, mein Essen, meine Entscheidungen – nur ich."
Doch paradoxerweise wird man in dieser Kontrolle selbst unfrei.
Essstörung als Schutz und Sprache
Essverhalten – ob restriktiv, kompensatorisch oder zwanghaft – ist oft der Versuch, das innere Chaos zu regulieren:
Kontrolle gibt scheinbare Sicherheit, wenn Nähe zu unsicher ist.
Rückzug vom Essen wird zum Rückzug vom Fühlen.
Hunger wird zur leisen Sprache der Ohnmacht: „Seht ihr mich?“
Das Verschwinden des Körpers wird zur Sehnsucht, irgendwo wieder aufzutauchen.
Was aussieht wie Selbstdisziplin, ist oft ein Schrei nach Kontakt – und nach Selbstwirksamkeit.
Das Spannungsfeld: Nähe ohne Verschmelzung – Freiheit ohne Einsamkeit
Viele Betroffene tragen tief in sich den Satz:
„Ich darf nicht ich sein – sonst verliere ich dich.“
So pendeln sie zwischen Überanpassung und Rückzug, zwischen Kontrolle und Hilflosigkeit.
Doch der Ausweg liegt nicht in der einen oder der anderen Seite – sondern im Sowohl-als-auch:
Ich darf Nähe zulassen – ohne mich selbst aufzugeben.
Ich darf ich selbst sein – ohne deshalb ausgeschlossen zu werden.
Ich darf essen – und zugleich spüren, dass ich mehr bin als mein Essverhalten.
Was es wirklich braucht
Hinter dem Bedürfnis nach Kontrolle steht oft:
Das Verlangen nach Verlässlichkeit
Der Wunsch, gesehen und gehalten zu werden
Die Angst, im Fühlen verloren zu gehen
Hinter dem Bedürfnis nach Autonomie steht:
Der Wunsch, sich selbst zu spüren
Die Sehnsucht nach Einfluss auf das eigene Leben
Der Drang, nicht erneut übergangen zu werden
Heilung beginnt dort, wo beides Raum bekommt
Essstörung ist kein Widerspruch – sondern oft eine kreative Überlebensstrategie in einem System, das beides nicht gleichzeitig erlaubt hat:
Bindung und Autonomie.
Heilung beginnt dort, wo ein neuer innerer Raum entsteht:
Ein sicherer Ort, an dem ich Nähe zulassen kann, ohne mich zu verlieren.
Und wo ich ich selbst sein darf – ohne Angst, verlassen zu werden.