Wir sind nicht nur der Schmerz – wir sind der ganze Ozean
Wir sind nicht nur der Schmerz – wir sind der ganze Ozean
Es war einmal ein Ozean, tief und weit, mit Wellen, die kamen und gingen. Manche waren sanft und kaum spürbar, andere bäumten sich auf wie riesige Berge, die drohten, alles mit sich zu reißen.
Eine dieser Wellen war anders. Sie wollte nicht einfach verschwinden. Während andere an der Küste brachen und sich in den Sand ergossen, blieb sie. Sie rollte nicht weiter, löste sich nicht auf – sie blieb einfach da, mitten im Ozean, ein stiller, ruhiger Berg aus Wasser.
Der Ozean wusste nicht, was er mit ihr tun sollte.
„Warum gehst du nicht?“ fragte er sie.
Die Welle schwieg.
Der Ozean wurde unruhig. Er wollte fließen, sich bewegen, er wollte, dass alles in seinem Rhythmus weiterging. Er begann, die Welle zu drücken, zu schieben, sie fortzuspülen – aber sie blieb.
„Du blockierst mich“, klagte der Ozean.
„Du hältst mich auf.“
Aber die Welle blieb.
Also versuchte der Ozean es anders. Er beobachtete sie. Schaute ihr zu, ohne sie zu bekämpfen. Und je länger er sie betrachtete, desto mehr verstand er.
Die Welle war nicht hier, um zu stören.
Sie war nicht hier, um den Fluss zu verhindern.
Sie war hier, weil sie Teil von ihm war.
Ein Teil, den er nie wirklich angesehen hatte.
Und als der Ozean das erkannte, hörte er auf, die Welle zu drängen. Er hörte auf, sie loswerden zu wollen. Stattdessen ließ er sie einfach da sein – genau so, wie sie war.
Und etwas Wunderbares geschah.
Die Welle begann, sich zu verändern. Nicht, weil sie verschwinden sollte. Sondern weil sie nun gesehen wurde. Langsam, sanft, ohne Zwang, glitt sie in den Ozean zurück. Nicht, weil sie dazu gezwungen wurde, sondern weil sie wusste: Sie hatte ihren Platz gefunden.
Manchmal glauben wir, dass unser emotionaler Schmerz wie eine Welle ist, die einfach nur verschwinden muss. Dass er ein Störfaktor ist, ein Hindernis in unserem Fluss.
Aber was, wenn er gar nicht da ist, um weggespült zu werden?
Was, wenn er nicht bedeutet, dass etwas „falsch“ ist?
Was, wenn er einfach nur darauf wartet, dass wir aufhören, gegen ihn anzukämpfen – und ihn endlich sehen?
Das Wissen, dass auch die unbequemen Gefühle ihren Platz haben dürfen. Dass sie nicht unser Feind sind.
Und vielleicht, wenn wir das erkennen, können sie sanft zurück in unser Inneres fließen – nicht, weil wir sie loswerden mussten, sondern weil sie endlich gehört und gesehen wurden.
Denn wir sind nicht nur der Schmerz.
Wir sind der ganze Ozean.